Kommunalpolitik in Radevormwald

 

Warum Radevormwald eine Sekundarschule bekommen soll

Ein politisches Statement.

Alle Kinder sollen in Radevormwald beschult werden, so lautet die Aussage der Politik auf diese Frage. Aber dazu benötigt man keine Sekundarschule, hierzu gäbe es andere Lösungen.

Nein – der eigentliche Grund für diesen Beschluss ist ein anderer, es soll einen Paradigmen-Wechsel in der Pädagogik geben. Die alte Pädagogik ist – zumindest in der Politik – nicht mehr gefragt.

Und was heißt das in diesem Falle?

Wie gesagt, Reformpädagogik ist gewünscht. Das bedeutet z. B. leistungsheterogene Klassen – integrativ soll es sein (nicht zu verwechseln mit „inklusiv“). Noten sollen auch nicht mehr die Rolle von früher spielen. Und wenn, dann möglichst keine Ziffernnoten, sondern differenzierte Lernberichte. Sitzenbleiben ist nicht mehr zeitgemäß, alle werden mitgenommen. Außerdem sollen die Schüler möglichst selbstständig entscheiden, was, wie und wieviel sie lernen wollen. Kein Frontalunterricht mehr, Lernbüros und Lerntheken sind angesagt, jeder sucht sich die Aufgaben aus, die er sich selbst zutraut. Das Prinzip heißt „Fördern statt Fordern“.

Dieser Ansatz ist schon alt. Und Schulen, die diese Pädagogik vertreten, sind in den letzten Jahren in Deutschland en vogue, besonders in rot-grün regierten Bundesländern. Sie heißen dort z. B. Stadtteilschule, Gemeinschaftsschule oder eben Sekundarschule.

Ob und wie das in der Praxis wirklich funktioniert, darüber kann man sich also kundig machen. Woanders experimentiert man da schon wesentlich länger als in NRW. Und über die Erfolge gibt es – wie immer in diesen Fällen - geteilte Ansichten.

Warum in Radevormwald auch politische Parteien und Gruppierungen mitmachen, die eigentlich diesen Wechsel aus pädagogischen Gründen ablehnen, hat wohl im Wesentlichen etwas mit Koalitions-Disziplin zu tun, und mit der – unbegründeten - Angst vor dem Verlust des Gymnasiums.

Es gibt übrigens auch Bundesländer wie Bayern oder Sachsen, die sich diesem Trend entziehen. Die weiterhin auf das Prinzip „Fördern und Fordern“ setzen, mit teilweise wesentlich strengeren Versetzungsordnungen als bei uns. Und diese Länder lagen interessanterweise beim letzten PISA-Ranking ganz vorne – nicht nur vor NRW, nein auch vor den hochgelobten Finnen.

Ob das Konzept der Sekundarschule in der Praxis funktioniert, hängt von vielen Kriterien ab, in allererster Linie davon, ob die Schüler da mitmachen bzw. ob sie das können.

Aber genau hier müssen letztlich die Eltern entscheiden. Die müssen einschätzen können, ob sie ihrem Kind so viel Selbstdisziplin zutrauen, auch ohne äußeren Druck zu lernen. Meine Erfahrung macht mich da skeptisch, aber – wie gesagt – das muss jede Mutter und jeder Vater selbst entscheiden. Eine Chance hat diese Schule auf Dauer nur dann, wenn sie von den Eltern angenommen wird. Und die Latte liegt hoch, denn die Sekundarschule ist per Gesetz dreizügig, d.h. sie muss in jedem neuen Schuljahr drei fünfte Klassen bilden (Daher die Grenze von 75 Schülern für die Errichtung, Haupt- und Realschulen brauchen übrigens nur zwei Züge).

Wenn das gelingen soll, muss die Stadt ehrlich und transparent informieren. Was ist von der neuen Schule zu erwarten? Wie läuft das Anmeldeverfahren? Welche Alternativen gibt es?
Da hapert es bislang gewaltig.

Was zu erwarten ist, dazu gibt es einen dürftigen Flyer von der Stadt. Der enthält aber z.B. nicht die Infos, die ich hier beschrieben habe.

Das Anmeldeverfahren? Bislang wurde dazu den Eltern gesagt, es gäbe nur die Wahl zwischen Gymnasium und Sekundarschule. Das ist natürlich Unfug und trägt nur zur (gewollten?) Verwirrung der Eltern bei. Das Verfahren ist im Wesentlichen dasselbe wie vor zwei Jahren. Zunächst besteht die Möglichkeit, das Kind an der Sekundarschule oder dem Gymnasium anzumelden. Erreicht die Sekundarschule nicht das Quorum von 75 Anmeldungen, gibt es Anmeldetermine für die Realschule ein oder zwei Wochen danach.

Alternativen? In Rade gibt es damit zumindest drei Möglichkeiten, zwischen denen die Eltern wählen können. Ob Sekundarschule oder Realschule, das hängt vom Anmeldeverhalten ab. Abgesehen davon stehen natürlich auch Schulen in den Nachbarstädten zur Wahl. Manch einer schickt sein Kind aufs Internat, auf die Walldorfschule, etc.

Warum ich das hier schreibe?

Klar, als Lehrer habe ich Angst um meinen Arbeitsplatz – wieder falsch. Darüber brauche ich mir wenig Sorgen zu machen. Und aufgelöst würde meine Schule auch, wenn eine Gesamtschule gegründet würde, was ich in der politischen Diskussion als beste Option für Radevormwald immer befürwortet habe!

Dieses schreibe ich hier ausdrücklich nicht als Lehrer, sondern als Mitglied des Stadtrates, das sich Sorgen darum macht, dass das Schulsystem hier in der Stadt zum Spielball politischer Interessen wird. Sichern und stabilisieren werden wir unsere Schulen so jedenfalls nicht. Im Gegenteil, eine Sekundarschule ist aus zwei Gründen viel gefährdeter als eine Realschule, eine Gesamtschule oder ein Gymnasium.

1. Grund: Sie wird von den Bürgern NRW-weit eben nicht in der gleichen Weise angenommen wie Realschulen oder Gesamtschulen. Im Gegenteil, mancherorts schicken Eltern ihr Kind lieber in die Nachbarstadt als auf die ortseigene Sekundarschule (s. z. B.  [5] und [6].

2. Grund: Sie braucht für den Weiterbestand (nicht nur bei der Gründung!) drei Züge – und damit einen mehr als Realschulen und Gymnasien. D.h. es müssen jedes Jahr so viele Kinder angemeldet werden, dass drei Klassen zustande kommen. Ob das auch noch klappt, wenn die Schülerzahlen – wie vorhergesagt – in den nächsten Jahren um 20% sinken?

Interessant ist außerdem, dass das Schulministerium selbst im Leitfaden für die Gründung von Sekundarschulen Gemeinden in der Situation wie Radevormwald davon abrät, eine Sekundarschule zu gründen, da sie mittelfristig dasselbe Schicksal wie die Hauptschule erleiden würde ([7], S. 9).

Es steht also zu erwarten, dass uns die Diskussion um die Schullandschaft in Rade in den nächsten Jahren erhalten bleibt.

(Januar 2016)

 

Hier ein paar Links (weitere Informationen gibt’s im Internet zuhauf):

Zur „Stadtteilschule“:

[1]  http://www.welt.de/print/die_welt/hamburg/article150138723/Bilanz-der-Stadtteilschulen-schlechter-als-im-Vorjahr.html

aber es gibt auch positive Berichte:

[2]  http://www.zeit.de/2015/49/schulwechsel-gymnasium-sitzenbleiben-nachhilfe-stadtteilschule

Zur „Gemeinschaftsschule“:

[3]  http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.gutachten-fuer-tuebinger-gemeinschaftsschule-schlechte-noten-fuer-gemeinschaftsschule.f5738058-d36e-4ad9-a1d6-5e25da3c3e2d.html

[4]  http://www.suedkurier.de/region/linzgau-zollern-alb/pfullendorf/Wollen-wir-eine-Gemeinschaftsschule;art372570,8382561

Und noch was zum Thema „Realschule als Auslaufmodell“:

[5]  http://www.derwesten.de/staedte/bochum/grenzgaenger-aus-bochum-sind-in-witten-unerwuenscht-id11256829.html

[6]  http://www.rundschau-online.de/rhein-berg/realschule-in-odenthal-zu-wenig-platz-fuer-auswaertige-schueler,16064474,30053940.html

Leitfaden des Schulministeriums NRW.

[7]  https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Schulsystem/Schulformen/Sekundarschule/Leitfaden_Sekundarschule.pdf

Und noch was Interessantes zum Thema Lehrmethoden:

[8]  http://www.welt.de/debatte/kommentare/article150030033/Warum-Ihr-Kind-bald-wieder-Frontalunterricht-hat.html